Tobias Luschner und ich waren nach unserer erfolgreichen Wiesenpilztour bei Harburg (Schwaben) am vorherigen Samstag erneut gemeinsam unterwegs – dieses Mal östlich von Augsburg: Unser erstes Exkursionsziel war die Kissinger Heide mit abwechslungsreichen Magerstandorten auf Kalkschotter.
Im Spätherbst sorgen dort etliche Blütenkelche der Herbstzeitlose (Colchicum autumnale) im sonst eher tristen Umfeld für Farbtupfer – die Blätter der giftigen Blütenpflanze erscheinen dann im Frühjahr zur Fotosynthese. Hier und da warten noch Nachzügler des Deutschen Fransenenzians (Gentianella germanica) auf Sonnenstrahlen, um ihre Blüten zu öffnen. Pilzmäßig war außer einigen Erd-Ritterlingen (Tricholoma terreum) als Begleiter der Wald-Kiefer wenig geboten.
Ein rosa Adermoosling
Wir waren schon auf dem Weg zu den nahegelegenen Bahngruben als wir eine lückig-krautig bewachsene Pfeifengraswiese durchquerten. Dort erspähte Tobias auf dem Boden kleine Fruchtkörper (Frk.), die seitlich und kurz gestielt waren. Deren Habitus und Oberflächenstruktur erinnerten mich an eine Mischung aus Violettblättrigem Zwergknäueling (Panellus violaceofulvus) – hier passt auch die fleischrosa Färbung – und Spaltblättling (Schizophyllum commune) – von den gespaltenen Pseudolamellen abgesehen. Der Pilz wuchs jedoch nicht an Holz sondern augenscheinlich auf nacktem Erdboden. Teils war der Boden sogar mit blassrosa Myzelfilz bedeckt.
Dank Matthias Dondls gut dokumentierten Funden aus 2009 und 2012 benamste Tobias den Pilz schließlich als Arrhenia roseola (Quél.) Senn-Irlet 1986, den Rosa Adermoosling. Laut Pilze Deutschlands würde es sich hierbei erst um den 4. Nachweis in Bayern und den 5. Nachweis bundesweit handeln – Gratulation an Tobias für diesen nicht alltäglichen, farbenfrohen Fund! (DGfM 2016a)
Bestimmungskrimi
Der Fall schien abgeschlossen, bis uns Kai Reschke im DGfM-Forum wichtige Anmerkungen nebst einem Literaturhinweis lieferte, die den als bestimmt geglaubten Adermoosling infrage stellen. Nachstehend ein Versuch, die beiden relevanten Abschnitte des Aufsatzes von Voitk und Mitautoren (2021) ins Deutsche zu übersetzen:
Voitk et al. 2020, S. 135:
Quélet (Le Breton & Quélet "1879" 1880) beschrieb Pleurotus roseolus als einen kleinen muschelförmigen, rosafarbenen Pilz mit einem relativ ausgeprägten, fast mittigen Stiel und weißem Sporenpulverabdruck, der an Binsen oder Süßgräsern vorkommt. Senn-Irlet (1986) transferierte P. roseolus Quél. zu Arrhenia. Quélets Beschreibung und eine Abbildung, die zu Deconica phillipsii (Berk. & Broome) Noordel. passt, lassen uns zu dem Schluss kommen, dass roseola fälschlicherweise auf eine rosafarbene Art von Arrhenia angewandt wird und dass es sich um ein späteres Synonym von Agaricus phillipsii Berk. & Broome handelt.
Voitk et al. 2020, S. 159:
Eines der interessanten Projekte, die aus dieser Arbeit hervorgehen könnten, ist das Studium der rosafarbenen, pinkfarbenen Arten innerhalb dieser weißsporigen grauen bis braunen Gattung.
Dass sich der rosa Clitopilus tillii als eine Arrhenia-Art herausstellte, war nicht völlig unerwartet, denn in der Vergangenheit wurden bereits rosa Arten der Gattung zugeordnet. (Wie in der Einleitung erwähnt, sind wir der Ansicht, dass roseola fälschlicherweise auf eine rosa Arrhenia-Art angewandt wurde).
Krieglsteiner (2011) berichtet zwei Fundorte einer rosafarbenen acerosa-ähnlichen Art, einen in der Nähe von Schweinfurt, Deutschland, an einer Pfeifengrasart auf kalkhaltigem Boden in einem trocken-warmen Gebiet, und der andere in der Nähe von Bachaue, Deutschland, auf Rohr-Glanzgras. Wenn diese Arten substratspezifisch sind, könnten sich die Aufsammlungen an Gräsern von der österreichischen A. tillii auf Nadelholz unterscheiden.
AC-3, eine französische bodenbewohnende Kollektion, die früher als „A. roseola“ identifiziert wurde, fällt in unserem Baum in die Nähe von A. tillii, was darauf hindeutet, dass sie eng verwandt sein könnten, aber die erheblichen Unterschiede Unterschiede in der ITS erlauben es nicht, sie als Artgenossen zu behandeln.
Die nordamerikanische rosa Art, AC-5, ist ziemlich weit von A. tillii entfernt, ein weiteres Beispiel für Homoplasie in diesem Komplex.
Nach dem Sichten der Arbeit könnten die beiden Abb. des mit „AC-3“ ausgewiesenen Einzelfunds durchaus zu Tobias´ Fund passen, auch der von mir beobachtete rosafarbene Myzelfilz an der Stielbasis ist auf dem zweiten Bild „B2“ erkennbar. (Voitk et al. 2020: 135)
Es ärgert mich, dass ich keine Beschreibung angefertigt habe, weil ich den Fund nach Tobias Recherche als eindeutig bestimmt abtat. Zwei Frk. lagen sogar noch eine Weile im Kühlschrank, aber mehr als die Maße ließen sich von dem überalterten Material nicht mehr ableiten.
Zur Ermittlung der Sporenpulverfarbe, des Geruchs und Geschmacks sowie der mikroskopischen Merkmale braucht es zwingend eine frische Aufsammlung, dann ließe sich auch ein brauchbarer Beleg für weitere, ggf. molekulare Untersuchungen anfertigen.
Üppiger Flechtenteppich
Unsere Exkursion wollten wir mit einem kurzen Besuch der nahegelegenen Bahngruben an der Trasse Augsburg – München beenden. Hierzu durchquerten wird das südöstlich der Kissinger Heide gelegene Vorfeld. Die Fläche ist durch niedrigen Pflanzenwuchs ohne nennenswerte Schattenspender geprägt. Entsprechend leben dort trockenresistente Spezialisten, darunter eine auffällige Strauchflechte, die den Boden stellenweise teppichartig mit Polstern überzieht.
Der graue bis graugrüne und an die 8 cm hohe Vegetationskörper (Thallus) verzweigte regelmäßig und spitzte in bräunliche Enden aus. Die Stämmchen waren unten mit einigen Blättchen besetzt, wohingegen „echte“ Rentierflechten weder Blättchen noch Schüppchen aufweisen. Die Stämmchen/Ästchen waren hohl. Bereits mit bloßem Auge konnte man die gescheckte Rinde mit grünlichen Feldern auf weißlichem Grund erkennen. Mit dem Schlüssel von Wirth & Kirschbaum (2014) zur okölogischen Artengruppe „Flechten auf kalkhaltigen Böden“ lande ich schnell bei der Falschen Rentierflechte (Cladonia rangiformis). Sie bevorzugt besonnte, warme Standorte auf kalk- oder basenhaltigen, trockenen Böden – das würde gut passen.
Artabgrenzung
Laut dem Artporträt auf britishlichensociety.org.uk (BLS 2023) lässt sich C. rangiformis von C. furcata am besten durch den stärker verzweigten Thallus unterscheiden, wobei die Zweige in größeren Winkeln auseinanderlaufen und stachelige Büschel bilden. Wo die basalen Blättchen fehlen, kann C. rangiformis einigen Formen von C. portentosa oder Cl. ciliata sehr ähnlich sehen. Deren Abgrenzung erfolgt am besten anhand der Rinde: Beide haben eine fein filzige Oberfläche mit sichtbaren Hyphen, die Rinde von C. rangiformis ist jedoch glatt.
Da ich mich nur selten mit Flechten beschäftige, konnte ich mangels Reagenzien keine Tüpfeltests durchführen, um etwaige Farbreaktionen zu überprüfen. Insofern gebe ich mich damit zufrieden, dass es sich bei diesem Fund um die Falsche Rentierflechte (C. cf. rangiformis) handeln könnte.
Schwarz züngelt's im Moos
Unmittelbar an den Flechtenteppich schloss sich ein kurzwüchsiger Bereich an, der vom Echten Tännchenmoos, Abietinella abietina, dominiert war. Aus dem Moos spitzelten zahlreiche Exemplare einer schwarzen Erdzunge heraus, die wir bereits im Feld als Trockene Erdzunge, Geoglossum cookeanum, ansprachen.
Von Haarzungen-Arten (Gattung Trichoglossum) lässt sich G. cookeanum leicht durch das vollständige Fehlen borstiger Haare (Seten) abgrenzen. Innerhalb der Erdzungen (Gattung Geoglossum) ist eine genaue Untersuchung der Sporen (Maße, Septenzahl) und Paraphysenstruktur zur Artabgrenzung nötig.
Tobias Luschners Fundnotiz
Besten Dank fürs Mikroskopieren und Beisteuern der Mikrofotos!
Makro-Merkmale: Eine relativ breite, glatte Erdzunge mit typisch mattschwarzer Färbung. Der Stiel geht allmählich zungenförmig in den fertilen Teil über.
Mikro-Merkmale: Sporen mit 7 Septen und häufig zwischen 60 und 75 µm lang;
Paraphysen gerade und dunkel gefärbt. Die runden oder ovalen Endzellen sind wie eine Perlenkette aneinandergereiht.
Vorkommen und Gefährdung
G. cookeanum besiedelt nährstoffarme Offenstandorte wie Magerrasen oder Borstgrasrasen. In den Roten Listen (Bayern: 2021, Deutschland: 2016) wird sie als stark gefährdet (Kategorie 2) eingestuft, weil geeignete Lebensräume stark zurückgehen und die Art eng an extensiv genutzte, nährstoffarme Offenlandstandorte gebunden ist. Die Art reagiert empfindlich auf Eutrophierung und Beschattung.
Persönlich kenne ich die Art aus der Hasenheide, einem Teilbereich der Königsbrunner Heide (NSG Stadtwald Augsburg). Dort fruktifizierte G. cookeanum regelmäßig im Spätherbst nahe des Ölbachquelltopfs am Rand eines Trampelpfads entlang des Bachlaufs. Allerdings stammten diese Beobachtungen noch aus der Zeit, in der die Hasenheide über den Winter noch nicht von Przewalskipferden beweidet wurde. Seither konnte ich die Stelle zur Fruktifikationszeit leider nicht mehr begehen.
Literatur
- BLS (2023) Cladonia rangiformis. The British Lichen Society. 12.2.2023, abgerufen am 1.10.2024.
- Brackel W, Nebel M (2022) Moose und Flechten in Gründächern – Anpassung an den Klimawandel: Die Falsche Rentierflechte (Cladonia rangiformis) und das Geneigte Spiralzahnmoos (Tortella inclinata) sind Flechte und Moos des Jahres 2023. Bryologisch-lichenologische Arbeitsgemeinschaft für Mitteleuropa e. V. (BLAM). Dezember 2022, abgerufen am 22.9.2024
- DGfM (2016a) Verbreitung von Arrhenia roseola (Quél.) Senn-Irlet 1986. Pilze Deutschlands. Deutsche Gesellschaft für Mykologie. Abgerufen am 27.9.2024.
- DGfM (2016b) Verbreitung von Geoglossum cookeanum Nannf. ex Minter & P.F. Cannon 2015. Pilze Deutschlands. Deutsche Gesellschaft für Mykologie. Abgerufen am 27.9.2024.
- Dondl M (2009) Nr. 7: Rhodocybe tillii bzw. Arrhenia roseola. Verschiedene Gattungen. Dokumentationen 2009: Abgerufen am 19.9.2024.
- Dondl M (2012) Nr. 6: Arrhenia roseola (Quél.) Senn-Irlet. Verschiedene Gattungen. Dokumentationen 2012. Abgerufen am 19.9.2024.
- Hustad VP, Miller AN, Dentinger BTM, Cannon PF (2013) Generic circumscriptions in Geoglossomycetes. Persoonia 31: 101–111. DOI: 10.3767/003158513x671235
- Kunze A et al. (2021) Kissinger Heide bei Augsburg: Rosa Adermoosling in Pfeifengraswiese auf Kalk. Forum der Deutschen Gesellschaft für Mykologie e.V. (DGfM). 3.11.2021. Abgerufen am 26.9.2024.
- Lehr T (2020) Geoglossum cookeanum Nannf. 1942 – Trockene Erdzunge. Fundkorb.de. 3.8.2020. Abgerufen am 22.9.2024.
- Marqua J, Fischer C (2010a) Falsche Rentierflechte – Cladonia rangiformis Hoffm. Die Pilzflora des Ehinger Raumes. Abgerufen am 27.9.2024
- Marqua J, Fischer C (2010b) Cladonia subrangiformis (Huds.) Schrad. Die Pilzflora des Ehinger Raumes. Abgerufen am 27.9.2024
- Schoch CL, Wang Z, Townsend JP, Longcore JE, Miadlikowska J, Hofstetter V, Kauff F, Lutzoni F, McLaughlin DJ, Spatafora JW (2009) The Ascomycota tree of life: a phylum-wide phylogeny clarifies the origin and evolution of fundamental reproductive and ecological traits. Systematic Biology 58(2): 224–239. DOI: 10.1093/sysbio/syp020
- Voitk A, Saar I, Lücking R, Moreau P-A, Corriol G, Thorn RG, Hay C, Moncada B, Gulden G (2020) Surprising morphological, ecological and ITS sequence diversity in the Arrhenia acerosa complex (Basidiomycota: Agaricales: Hygrophoraceae). Sydowia 73: 133–162. DOI: 10.12905/0380.sydowia73-2020-0133.
- Wirth V, Kirschbaum U (2013) Flechten auf kalkhaltigen Böden. In: Flechten einfach bestimmen: Ein zuverlässiger Führer zu den häufigsten Arten Mitteleuropas. Quelle & Meyer, Wiebelsheim: 316.